Eine Irrfahrt, ein Horrorfilm, ein Rätsel
Von Albert Kuhn für die Weltwoche, 29. November 2007Cyrill Schläpfer schlägt wieder zu. Nach der Heimatrecherche «Ur-Musig» folgt ein düsteres Schattenspiel auf dem Lake Lucerne.
Die Musik, ums die hier geht, wird vielleicht nur einem kleinen, euphorischen Zirkel zugänglich bleiben. Oder sie wird grosser Kult. Entweder wird dies niemand verstehen oder alle wollen diesen Sound haben - aus Neugier, aus Patriotismus, aus dunkler Lust an Abgründen. Diese Musik ist sowohl radikal als auch sehr plausibel. Kritiker mögen sich die Haare raufen, aber jedes Kind versteht, was hier los ist. Viele werden sich kopfschüttelnd abwenden, sowas ginge ja nicht. Und ebensoviele werden fasziniert sein und entweder von einer neuen Musique Concrète sprechen, von Lozärner Wagnerianertum oder schlicht von Wahnsinn.
Wer blind erraten muss, was hier gespielt wird, kann minutenlang ratlos bleiben. Die allerersten Geräusche sind unbestimmt, klingen wie aus dem tiefen Weltraum oder aus einem Science Fiction Film. Dann aber ist das Anblasen eines Instrumentes zu hören, eine tiefergelegte Querflöte vielleicht, ein zweifaches, scharfes Fauchen. Oder das Tuten eine Dampflok? Später sind Wassergeräusche auszumachen und weiteres Tuuuuten im Hintergrund. Dieses Orchester, wenn es denn eines ist, spielt in einem sehr grossen Raum. Es könnte eine gotische Kirche sein - aber da wird ja weder gehupt noch stehn Kirchen normalerweise unter Wasser.
Nein, das sind Schiffe. Sie mögen im Hafen einer grossen Stadt liegen, die an eine Bergflanke gebaut ist und jedes Geräusch der grossen Schiffe aufs Meer zurückwirft. Vielleicht Genua? Aber so steil ist die Küste dort auch wieder nicht und der Verkehrslärm lauter als die Schiffe. Es muss sich um einen ruhiger gelegenen See in den Bergen handeln, wo jedes Geräusch von mindestens einer Seite zurückgeworfen wird. Ein von Felswänden umstellter, grosser See mit Dampfschiffs-Flotte? Die Kombination gibts weltweit nur einmal. Es ist der Vierwaldstättersee.
Damit ist das Rätsel weder gelöst noch abgehakt - es tut sich erst auf. Wir hören deklariertermassen Aufnahmen von Dampfschiffgeräuschen, aber nicht einfach Tondokumente, die tel quel auf CD gepresst wurden. Den Klängen und Geräuschen wurde eine Form gegeben, ein Ablauf, eine vielstimmige Dramatik im Kleinen und im Grossen. Wie man’s dreht und wendet: Dies ist Musik.
In Gesprächen tönt Schläpfer eine mögliche Verwandschaft zur Musique Concrète an, winkt aber gleich ab: «Wenn ich das laut sage, riskier ich Prügel, werd ich in der Luft zerrissen.» Die Definition von «konkreter Musik» lautet: «Eine Musikrichtung, bei der Geräusche aus Natur, Technik und Umwelt mit dem Mikrofon aufgenommen und durch Montage, Bandschnitt, Veränderung der Bandgeschwindigkeit, und Tapeloops elektronisch verfremdet werden.» Genau dies hat Schläpfer gemacht - über die Zeitdauer von zehn Jahren, davon zwei Jahre lang fünf bis sechs Stunden täglich.
Schläpfer - Perfektionist, Patriot und tiefer Zweifler - hat den Hang zum Gesamtkunstwerk: 1993 verfilmte er mit «Ur-Musig» die die Essenz der Schweizer Alpenkultur, einer der exotischsten Filme überhaupt, weil er eine untergehende Welt fühlbar machte. Darauf folgte, ebenfalls über Jahre, eine akustische Bestandesaufnahme der ungeschönten Schweizer Volksmusik mit Schwerpunkt Rees Gwerder. Danach eine Serie von Innerschweizer Aussenaufnahmen auf Alpen («s’Glüüt»), an Seen und auf Traktoren. Dazwischen eine Neubearbeitung von Taxi’s «Campari Soda» für die Swissair. Und nun DAS hier.
Die Protagonisten der Dampfschiffsymphonie sind die Uri, die Unterwalden, die Schiller, die Gallia, die «Stadt Luzern» und als Junior-Stargast das kleine Motorschiff Rütli. Sie werden vom Komponisten und Musiker Cyrill Schläpfer auf eine siebzigminütige Reise geschickt, man könnte auch sagen: losgelassen. Denn dies ist kein fröhlicher Sonntagsausflug mit Bratwurst und Kindergeschrei, sondern so ziemlich das Gegenteil. Die Schiffe sind Ungetüme, Monster, Aliens und ihr Fauchen und Jaulen schreit etwas heraus, das wir uns erst noch übersetzen müssen.
Auf der DVD-Version wird die Symphonie zur Vierwaldstättersee-Oper: Schläpfer entschloss sich zur Verfilmung des Soundtracks. Ein Vexierspiel - und hier gleich noch eins: Man realisiert, dass einige Passagen, nicht Film, sondern Fotografien sind. In Wahrheit sind es ausschliesslich Fotografien. Mittels Überlagerungen, Überblendungen und Zooms bringt Schläpfer Schiffe zum Gleiten, Möven zum Segeln und Wasserflächen zum Glitzern. Photoshop-Experimente durchleuchten Schiffe, lassen sie aufblitzen, absaufen, abheben und ins Weltall verschwinden. Und akustisch: Viel Echo und Hall, aber alles ohne Geräte, alles Natur. Unterm Strich hat sich Schläpfer einer formalen Disziplin und technischen Selbstbeschränkung unterworfen, die etwa jener der dänischen «Dogma»-Filmer entspricht. Und hat en passant die verfilmte Fotografie erfunden oder neu erfunden.
Ein Vierwaldstättersee-Hörspiel, eine mechanische Operette, ein Wasserballet, eine Heimatsuche, ein Leviathan-Gleichnis, eine Space Odyssee, eine Irrfahrt, ein Horrorfilm, ein Swiss Darkness Video, eine psychedelische Pracht. Und ein Rätsel so massiv und tief wie Moby Dick.