Christine Lauterburg

von Nina Toepfer für 'Du' 7/1994

 

Samstagabend, Kulturfabrik Burgdorf, angesagt ist die Rockgruppe «Span». Auf die Bühne tritt aber eine Frau, mit Flower-Body und wildem Haar, ein Groupie wohl. «Du liebe Bueb vom Ämmital», setzt sie an und legt im Refrain einen Jodel hin. Das junge Burgdorf wird unruhig, grinst verunsichert. Aber die zierliche Frau - wo nimmt sie nur dieses Stimmvolumen her? - im zusammengestiefelten Look weiss genau, was sie tut. Die Verlegenheit im Saal weicht gespannter Aufmerksamkeit.

Christine Lauterburg jodelt direkt ins Zwerchfell der Berner Rockszene. Sie spielt Langenthaler Örgeli und E-Geige, ihr Partner Housi Wittlin schrummt die Gitarre. Aber vor allem: sie singt. Das Repertoire des skurrilen Paares reicht von einer bernischen Interpretation des soliden «Under the Boardwalk», Housi steht auf die alten Stones, bis zum traditionellen Volkslied, Christines Leidenschaft.

Bei «Du liebe Bueb» hält sich Christine an die Vorlage, andere Lieder verändert sie. Etwa «Hie unde ar Aare», ein Kuhreihen, der ursprünglich gesungen wurde, um das Vieh zu beruhigen und anzulocken. Christine belässt nur die erste Strophe des Originals, den Rest hat sie umgetextet: «Gar luschtig und buschtig, gang Meitschl blib chruschtig, gar grüseli tuets winde, tue d'Häärli ufbinde.» Denn nicht nur an der Aare weht ein rauher Wind.

Bereits das traditionelle Liedgut kennt resolute Frauen. Die Lauterburgsche Version von «Hie unde ar Aare» greift am Schluss weit über das herkömmlich Denkbare hinaus. Da rasen Lastwagen durchs Tal, zerschneiden dröhnend die Luft: «Da tüe si geng fahre, geng Laschtwage fahre, hie unde ar Aare, jo ho lo li o ho, drum fahre uf d'Alp.»

Lastwagen seien ihr früher buchstäblich durch die Wohnung gedonnert, erzählt Christine an einem lauen Märznachmittag. Sie wohnt in einem kleinen, niederen Haus am Rand der Berner Altstadt, nur die Strasse trennt es vom Aare-Ufer. Ihr Wohnzimmerfenster rahmt eine fast ländliche Idylle ein: Auf einer Kiesinsel im Fluss hat sich vor kurzem ein Storch niedergelassen, nun wartet er auf seine Störchin. Sonnenlicht fällt auf ein kleines Blumenmeer, das sich über den Schreibtisch ergiesst. Christine ist gerade 37 geworden.

«Auch wenn ich Volkslieder singe, jodle, kann ich doch nicht so tun, als wäre ich auf der Alp. Ich möchte vielmehr die alten Lieder und den Jodel in meine Welt ziehen. Ohne meine Interpretation oder Abänderung kann ich ein Lied wie heute gar nicht mehr singen. Ich musste die Lastwagen integrieren, das ist auch meine Klage, mein Blues.» Wie kommt ein ganz normales Berner Stadtkind auf die Idee zu jodeln? Sie klappert mit Geschirr, kocht Wasser. Zwei Personen haben in ihrer kleinen Küche unmöglich Platz. Schliesslich kommt sie mit dem Tablett, stellt es im Wohnzimmer auf einen Hocker, der dadurch zum Tisch wird. Von der Wand gegenüber dem Sofa schaut die russische Zarenfamilie zu; die Gemälde von Christines Bruder stapeln sich bei ihr.

Als Kind war ihr zunächst klar: Schauspielerin wollte sie werden. Und Geige spielen. Schon deren Form faszinierte sie. In ihrer musizierenden Familie spielte man vornehmlich Klassisches, Bach zum Beispiel. Aber da ihr Vater einen Hang zum Dixie hatte, improvisierte Christine schon früh und spielte nach Gehör. Eher eine Qual wurden ihr die Stunden auf der «teuflischen» Geige. In dieser verschraubten Haltung locker zu bleiben, falle einem schon schwer. Da habe sie das Schicksal herausgefordert; auf dem Weg zur Geigenstunde bei ihrer strengen Tante hielt sie das Instrument über das Brückengeländer - in der Hoffnung, es falle von selbst ins Wasser. Das Schicksal wollte nicht.

Im Lehrerseminar - «falls es mit dem Theater doch nicht klappt», so die Eltern nahm sie dann Stunden im klassischen Gesang. «Das war direkter, als die Töne mit den Fingern umzusetzen.» Später in der Schauspielschule Bern hat sie die unmittelbaren Erlebnisse wieder vermisst. Wenn sie etwa in einem dunklen Raum lag und sich die Hitze an einem Strand vorzustellen hatte. Verschiedene Engagements führten sie nach ihrem Abschluss 1982 auch an deutsche Theater - bis zur harten Erfahrung im Zweipersonenstück «Danny und die tiefblaue See» an den Frankfurter Kammerspielen, wo sie eine von Inzesterfahrungen traumatisierte junge Frau spielte. Nach den Vorstellungen blickten ihr verheulte Augen aus dem Graderobenspiegel entgegen. Weinen gehörte zwar zur Rolle, aber ihrem Partner geriet das Stück zur Wirklichkeit, so dass er sie tatsächlich unkontrolliert schlug.
Christine zupft an ihrer Wange, um zu zeigen, dass sie kein Pölsterchen vor seinen Schlägen schützte. Nicht nur ihr Gesicht sei mit Flecken in allen Farben übersät gewesen. Ihre blaugrauen Augen blitzen noch immer empört, wenn sie sich daran erinnert.

Nach Ablauf des Stückvertrags hatte sie genug vom Theater. Sie belegte einen Jodelkurs an der Migros-Klubschule und zog mi ihrem damaligen Ehemann aufs Land. Gespielt hat sie seitdem in rund zehn Filmen, etwa in «E Nachtlang Füürland» (Klopfenstein/Legnazzi), «Der Ruf der Sybilla», «Macao» (beide Klopfenstein) und, als sie bereits jodelte, «Alpenglühn», Silvia Horisbergers Dokumentar-Spielfilm, der sie an das kantonale jodlerfest in Langenthal begleitete.

«Ich wollte etwas Schönes machen. Etwas, das gerade aus dem Herzen kommt, wozu man keine Inszenierung braucht und nicht warten muss, bis sich das Publikum gesetzt hat. Für mich bedeutet Volksmusik oder Naturjutz, dass sich einer, gerade dort, wo er ist, hinstellt und einen jutzt.» Und schön heisst dabei nicht etwa beschönigend. In dieser Unterscheidung bündelt Christine ihre Kritik am Schweize Folklorismus: Sie distanziert sich von de starren, lebensfremden Form, vom selbstgerechten politischen Unterton der DRS-Hudigäägeler. Schliesslich klängen diese alten Jodellieder rauh, nicht eigentlich schön. Wie in Amerika der Blues, dort sei auch der Dreck noch drin. Jodel sei keine komplizierte Musik. Die Stimmspanne über zwei Oktaven habe sich ihr als neues Feld von Ausdrucksmöglichkeiten angeboten. In einem ihrer Stücke singt sie: «Bin i bang, mach I schnäll e liebe, wilde, höche, luute, gsalzne Klang.»

Gesalzen - ja; der Jutz liegt hart an der Grenze des Musikalischen zwischen Jodel und unartikullertem Schrei. Bereits Kaiser Julian berichtete im 4.Jahrhundert mit einiger Bestürzung: «Ich sah auch, wie die Barbaren über dem Rhein wilde Lieder, im Ausdruck dem Krächzen der Vögel ähnlich, sangen und sich an den Liedern freuten.» Beim Jutz, dieser besonderen Erscheinung des Jodels, schlägt die Stimme in die höchstmöglichen Lagen hinauf und schliesst oft mit einem Triller und einem abwärtsführenden Schlussportamento. In den Psalmen sind sie als Ausdruck der Freude belegt, aber die Nonsberger Märtyrerakten berichten auch von «horridos jubilos pastorales». Sie meinen damit leidbetonte Jauchzer, die den Tod christlicher Missionare begleiteten. Der reine Jodel, also der Gesang mit nicht sinngebundenen Silben und dem Wechsel vom Brust- ins Kopfregister, ist hierzulande domestiziert worden. 1943 hat der Jodelverband in einer heute noch verbindlichen Schulungsgrundlage für Jodlerinnen und Jodler zum Beispiel festgelegt, welche Vokallsationen dafür vorzuziehen seien, nämlich o für die tiefen und u oder ü für die hohen Lagen. Zudem seien Verschlusslaute in Jodelsilben zu vermeiden (wie in doli, duli, du) und durch j und l zu ersetzen (jo, jü, lü).

Mit Christines eigenwilligen Experimenten tun sich die Mannen und Frauen der helvetisch sauberen, der «ächten» Volksmusik schwer. Sie finden schon ihr Äusseres unstatthaft. An offiziellen Jodlerfesten lassen sie nur Sängerinnen und Sänger in korrekter Tracht auftreten. Was das mit dem Volk und seiner Musik zu tun hat, geht Christine nicht in ihren Berner Gring. Nichts gegen Trachten, die findet sie sehr schön. Aber warum soll sie nicht auch Mini und Männertracht kombinieren dürfen? Sie hat schliesslich gelernt, sich für einen Bühnenauftritt etwas einfallen zu lassen; dabei strapaziert sie gelegentlich den braveidgenössischen Humor. Falls es so etwas gibt. Die feingliedrige Rebellin in raubtiergemusterten Strümpfen und Robin-Hood-Stiefeln schenkt Tee nach und lacht, «das muss man doch alles nicht so ernst nehmen!».

Sie zielt mit ihren Variationen nicht auf Provokation. Vielmehr beharrt sie auf ihrer eigenen, vom Inhalt ausgehenden Interpretation. Sie variiert die Melodielinien und singt schneller als vorgeschrieben. «Ich würde gerne mal genauer wissen, warum unsere Volksmusik so wenig rhythmusbetont ist. Rhythmus bringt Bewegung, Befreiung.» Zur Zeit arbeitet sie an einer neuen CD, «Echo der Zeit». Sie soll Ende 93 bei CSR Records erscheinen und traditionelle wie experimentelle Elemente mit Dance-Floor-Rhythmen verbinden. Sie lässt ihre Stimme spielen, improvisiert, sucht die heute herausgebügelten Unebenheiten der authentischen Musik und ihre wegrationallsierte Mystik. Klangfragmente, die sie in der Stille der Berge und den wechselnden Rhythmen des fliessenden Wassers erhört hat, setzt sie in Eigenkompositionen zusammen. Da erinnert man sich zuweilen an die guten Zeiten der Nina Hagen.

Beim leisesten Verdacht auf festgefahrene Formen bricht Christine aus. Das hat sie auch in ihrem Privatleben schon einige Male getan. Mut? Nein, eher ein vitaler Reflex. Ins Wasser springen, ohne sich zu benetzen, das hat sie als Kind ihrem Vater nachgemacht, völlig überhitzt in die Aare, wo doch die anderen behaupteten, dabei sterbe man sofort.

Neben der kontinuierlichen Arbeit mit Res Margot - «das fägt auch, weil wir zunehmend ins Ausland eingeladen werden» singt sie denn auch in «Trio neun» zu Housi Wittlins rockiger Gitarre mit Daniel Linde am Bass. Für andere Gigs laufen ein Schlagzeuger und der Pianist von «Patent Ochsner» vorübergehend zum «Trio neun» über. Rockiges, Blues, Gospel und Elemente vo «Schynige Platte» verbindet sie in der Formation «Fläddermüüs» mit Housi, Res Margot, seiner Frau Ruth und seinem Sohn Bänz. Und mit ihrer «übenden Schwester», Josefina Lehmann, haben sich die «DüS» einen Namen erjodelt.

Alpenrose und Lederjacke, kaum verwunderlich, dass Christine keine Antwort auf die Frage hat, was für Musik sie macht. «Eigentlich ist alle Musik, die nicht aus ästhetischer Bildung, sondern aus der Tradition und dem Ritual entsteht, Volksmusik.» Alles Aufgebauschte liegt ihr fern; aufgebauscht bedeutet im ursprüngliche Wortsinn «böse».
In Burgdorf sprang der Funke schnell über. Aber als die Berner Rockgruppe «Span» antrat, schien das Publikum doch dankbar für die einfache Hörhilfe des Schlagzeugs: solides Terrain nach eine ungesicherten Abstecher in die Höhe.

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